Das Würfelspiel um Tod und Leben

mima

„Wir freilich kennen kein höheres Würfelspiel, als das um Tod und Leben: jeder Entscheidung über diese sehen wir mit der äußersten Spannung, Theilnahme und Furcht entgegen: denn es gilt, in unsern Augen, Alles in Allem. – Hingegen die Natur, welche doch nie lügt, sondern aufrichtig und offen ist, spricht über dieses Thema ganz anders, nämlich so, wie Krischna im Bhagavad-Gita. Ihre Aussage ist: an Tod oder Leben des Individuums ist gar nichts gelegen. Dieses nämlich drückt sie dadurch aus, daß sie das Leben jedes Thieres, und auch des Menschen, den unbedeutendesten Zufällen Preis giebt, ohne zu seiner Rettung einzutreten. – Betrachtet das Insekt auf eurem Wege: eine kleine, unbewußte Wendung eures Fußtrittes ist über sein Leben oder Tod entscheidend. Seht die Waldschnecke, ohne alle Mittel zur Flucht, zur Wehr, zur Täuschung, zum Verbergen, eine bereite Beute für Jeden. Seht den Fisch sorglos im noch offenen Netze spielen; den Frosch durch seine Trägheit von der Flucht, die ihn retten könnte, abgehalten; den Vogel, der den über ihm schwebenden Falken nicht gewahr wird; die Schaafe, welche der Wolf aus dem Busch ins Auge faßt und mustert. Diese Alle gehen, mit wenig Vorsicht ausgerüstet, arglos unter den Gefahren umher, die jeden Augenblick ihr Daseyn bedrohen. Indem nun also die Natur ihre so unaussprechlich künstlichen Organismen nicht nur der Raublust des Stärkeren, sondern auch dein blindesten Zufall und der Laune jedes Narren, und dem Muthwillen jedes Kindes, ohne Rückhalt Preis giebt, spricht sie aus, daß die Vernichtung dieser Individuen ihr gleichgültig sei, ihr nicht schade, gar nichts zu bedeuten habe, und daß, in jenen Fällen, die Wirkung so wenig auf sich habe, wie die Ursache. Sie sagt dies sehr deutlich aus, und sie lügt nie: nur kommentirt sie ihre Aussprüche nicht; vielmehr redet sie im lakonischen Stil der Orakel. Wenn nun die Allmutter so sorglos ihre Kinder tausend drohenden Gefahren, ohne Obhut, entgegensendet; so kann es nur seyn, weil sie weiß, daß wenn sie fallen, sie in ihren Schooß zurückfallen, wo sie geborgen sind, daher ihr Fall nur ein Scherz ist. Sie hält es mit dem Menschen nicht anders, als mit den Thieren. Ihre Aussage also erstreckt sich auch auf diesen: Leben oder Tod des Individuums sind ihr gleichgültig. Demzufolge sollten sie es, in gewissem Sinne, auch uns seyn: denn wir selbst sind ja die Natur. Gewiß würden wir, wenn wir nur tief genug sähen, der Natur beistimmen und Tod oder Leben als so gleichgültig ansehen, wie sie. Inzwischen müssen wir, mittelst der Reflexion, jene Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit der Natur gegen das Leben der Individuen dahin auslegen, daß die Zerstörung einer solchen Erscheinung das wahre und eigentliche Wesen derselben im Mindesten nicht anficht.“

Aus: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung 2. Band Kapitel 41

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