Der Flaneur als Figur zwischen Kamera und Screenshot und die Welt zwischen virtuell und real

mima
Clown

Florian Rötzer schrieb 1996 einen Artikel über den Flaneur in den Datennetzen.

Darin beschreibt er aus der Sicht von 1996 das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit:

„In gewissem Sinne hat sich das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit mittlerweile verkehrt. Ist man früher aus dem Haus getreten, um in die Öffentlichkeit einzutauchen, und hat man sich aus ihr zurückgezogen, in dem man Türen und Fenster hinter sich schloß, so haben die Medien Schritt für Schritt die Wände durchlöchert: im Inneren ist man mittlerweile direkter an das Außen und die Öffentlichkeit angeschlossen als in den beschränkten lokalen Räumen einer Stadt, in denen man vor allem die Einsamkeit übt – wie im Schweigen während der Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Durcheilen der Fußgängerzonen oder Warentempel.“

Weiter beschreibt er mit vielen Worten die unterschiedlichen Facetten des Flaneurs früher und heute und kommt zu dem Schluß: „Der Flaneur der wirklichen Städte war zwar anonym, aber er mußte sich doch mit seinem Körper durch den Raum bewegen, war präsent und verletzlich, eine Gestalt, deren Identität sich trotz allen Spiels nicht verheimlichen ließ. Der Netzflaneur hat den Vorteil, sich in keiner Weise mehr preisgeben zu müssen, hinter einer nahezu unabreißbaren Maske bewegen zu können, weil er nicht nur immer unter einer fiktiven Identität auftreten kann, sich je nach Kontext einen anderen Namen oder ein anderes Erscheinungsbild seiner selbst in Form eines Avatars zulegen kann, sondern vor allem, weil der Cyberspace eine Stadt ist, die sich über die gesamt Welt erstreckt, in der alles nur einen Klick weit entfernt ist, in Wirklichkeit aber Tausende von Kilometern. “

Das war vor google und Facebook.

Heute sind wir „weiter“. Was bei google nicht gefunden wird, ist nicht in der virtuellen Welt, könnte man sagen. Der Weg des Netzflaneurs ist der Weg über google oder eben soziale Netzwerke wie Facebook oder Instagram, wenn man von vornherein Grenzen ziehen will.

Von kommerziellen Interessen geleitet werden Wege durch die Passagen angeboten, Kaufhaus-Passagen in digitaler Form.

Es ist die Dekonstruktion und die Rekonstruktion von Wirklichkeit.

Welche Rolle spielen dabei Fotos, welche Rolle spielt dabei die Fotografie?

In vielfacher Form wird die Fotografie ein Darstellungsmedium. Sie konstruiert Wirklichkeit, sie dokumentiert durch konstruierte Wirklichkeit, sie ist ein persönliches Ausdrucksmittel, sie zeigt, sie verschweigt, sie ist die Essenz der virtuellen Welt.

Sie konstruiert auch auf den vorgegebenen Wegen eine globale visuelle Kultur und sie produziert eine eigene Matrix.

Barbara Becker hat das so ausgedrückt: „Das Potential einer Fotografie liegt demnach nicht in einer wirklichkeitsgetreuen oder wahrhaftigen Realitätsabbildung, vielmehr besteht ihre besondere Bedeutung und Funktion gerade in ihrer Selektionsfunktion, d.h. im Herausheben eines bestimmten Aspektes bzw. in der Betonung von spezifischen Details eines Wirklichkeitsausschnittes. Erneut deutlich wird, dass man das Verhältnis von Fotografie und Wirklichkeit nicht mit den Kategorien wahr und falsch fassen kann: Fotografien liefern Betrachtungsweisen der Wirklichkeit und niemals diese selbst (Matz).“

Wer die eigenen Wohnwände verläßt und in die soziale Außenwelt geht, hat eine völlig andere „Wahr“-nehmung als der, der durch das Netz flaniert.

„Wahr“ ist das, was wir erleben.

In dem Buch Krieg und Konflikt in den Medien wird darauf hingewiesen, daß Computerspiele oft das Denken und Handeln mehr prägen als die Welt außerhalb der digitalen Box. Anders ausgedrückt prägt das Wahrgenommene darin dann das Handeln draussen.

Bilder machen Menschen, Menschen machen Bilder – cui bono, zu wessen Nutzen?

Wer herrscht und regiert prägt die Welt der Bilder. Welche Bilder gezeigt und gesehen werden, hängt von denen ab, die dafür Zeit und Geld haben.

So entsteht eine Matrix, die den sozialen Gesetzen von Macht und Geld folgt. Auch das können Fotos zeigen, aber wer schaut hin und wer sieht es?

Wenn wir fotografieren, liefern wir Betrachtungsweisen. Damit sind unsere Fotos auch Ausdruck unserer sozialen Betrachtungsweisen der Gesellschaft. Wir zeigen was andere sehen wollen und was sie nicht sehen sollen. Wir zeigen uns oder das was uns für andere öffentlich ausmacht.

Es ist sehr einfach. Als es noch keine Fotos gab und kaum Medien, waren Bilder beschränkt auf Darstellungen in Gemälden, Kirchen und Büchern.

Heute sehen wir an einem Tag mehr Bilder als andere damals im ganzen Leben – zumindest ungefähr. Daher ist unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit eben vielfach konstruierte Bilderwirklichkeit.

Vielleicht konstruieren wir daher mittlerweile Bildwirklichkeiten – wer weiß.

Aber es ist unsere Lebenszeit und damit stellt sich die Frage was wir sehen, was wir nicht sehen, warum wir was sehen und – wenn man weiterdenkt – was wir sehen sollen und was wir nicht mehr sehen sollen.

Vielleicht ist es Zeit dies zu sehen.

 

 

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