Leben in schwierigen Zeiten

mima

„Welchen Sinn hat dieser seltsame philosophische Zweifel an der Existenz der Welt, wenn wir doch alle wissen, dass das wirkliche Leben einfach weitergeht und sich nicht um diese zweifelnden Gedanken schert?“

Das fragte sich Florentijn van Rootselaar und besuchte danach prominente Denkerinnen und Denker weltweit, um mit ihnen darüber zu sprechen.

Daraus ist ein Buch geworden „Leben in schwierigen Zeiten. 15 Philosophen über Klimawandel, Fake News und andere DInge, die uns den Schlaf rauben.“

Das Buch kam kurz vor Corona bei wbgTheiss raus und ist für unterwegs und zwischendurch eine meiner Meinung nach grundlegende Lektüre.

Auf flaneur21 ist es richtig, weil es quasi flanierend einen Blick durch das Denken, Gedenken und dadurch andere Sehen der Gegenwart vermittelt.

Millionen gehen auf die Straßen weltweit. Und was passiert?

Nichts außer das die Regierenden an die Herrschenden noch mehr Geschenke machen und die Arbeitslosigkeit steigt. Nur nichts verändern an den Gewinnverhältnissen und Machtverhältnissen. Natürlich geht es nicht so weiter wenn es so weitergeht. Die Steigerung sehen wir z.B. gerade bei Bolsonaro, der noch schneller noch mehr Urwald abholzen läßt und bei Trump…

Beim Gespräch mit Alain Finkelkraut notiert van Rootselaar: „Unsere Zeit ist paradox. Sie rühmt unaufhörlich den Rebellen, den Exzentriker, Grenzüberschreitungen, aber zugleich toleriert sie überhaupt keine Nostalgie. Sie weigert sich zur Gegenwart auf Distanz zu gehen. Obwohl das doch etwas ist, was uns die Kultur anbietet: Sie befreit uns vom Korsett der Aktualität…sie ermöglicht den Vergleich.“

Das ist übrigens auch bei der Fotografie so. Das vermeindlich Neue ist nur dann besser, wenn man nicht weiß, was vorher war.

Und die neuen Fotos sind oft neuer aber langweiliger, leblos, totes Brot.

Für Aristoteles bestand Demokratie darin auf den Markt zu gehen, zu sprechen und zu streiten.

Das war die Idee der Polis, Demokratie war direkt.

Dann wurde das Repräsentativprinzip erfunden und die direkte Demokratie wurde ersetzt duch einflußreiche Gruppen:

„Die radikale Demokratie, wie sie im 5 Jhrdt. in Athen existiert hatte, …. erfuhr im Laufe des 4. Jhrdts. beträchtliche Modifizierungen….. Während eine äußerst vage Vorstellung von demokratia zum Ideal erhoben wurde, unterschied sich gleichzeitig die konkrete institutionelle Bedeutung des Wortes von Stadt zu Stadt und von Epoche zu Epoche. „Demokratie respektieren“ wurde zu einem Schlagwort, das eine Vielzahl von Interpretationen zuließ. Die Bedeutung von demokratia veränderte sich allmählich von „Volksherrschaft“ – Herrschaft der Bürger ohne Berücksichtigung von Vermögen und Herkunft, hin zu „Volkssouveränität“ – Souveränität der Bürgerschaft in erster Linie gegenüber externen Interventionen. Diese semantische Verschiebung erlaubte es, dass selbst Städte, in denen viele Bürger von politischen Ämtern, politischer Teilhabe und politischen Initiativen ausgeschlossen wurden, als demokratiai angesprochen wurden.“ (161)

Aktueller kann der Umgang mit Geschichte und der Blick auf die Gegenwart wohl kaum sein.

Und wir fotografieren und flanieren in dieser Zeit.

Die Fotografie ist ja die Bild gewordene Beschäftigung mit der Gegenwart. Sie verkörpert das Jetzt und die Zeit. Sie kann uns aber auch die Vergangenheit zeigen, wenn wir nicht nur Fotos machen sondern sie später auch anschauen.

Früher war anders und doch auch so wie heute. Zivilisation kann man kaufen, Kultur nicht. Deshalb ist ein Bruch mit der kulturellen Überlieferung so schlimm. Konsumismus ist kein Ersatz für Kultur.

Deshalb wird von den Herrschenden bewußt eine Erinnerungskultur in ihrem Sinne gepflegt und abweichende Wahrheiten werden oft diffamiert.

Dagegen hilft nur Meinungsfreiheit, Schutz und demokratisch kontrollierte staatliche Ordnung.

Beim Flanieren bin ich auf das Buch gestoßen, beim Fotografieren kann ich das Gelesene einsetzen, wenn ich durch diese Brille schaue und vielleicht fotografisch das umsetzen, was in den heutigen schwierigen Zeiten zu sehen ist.

Und deshalb ist die Frage so interessant, wie früher die Menschen in schwierigen Zeiten gelebt haben

  • vor der visuellen Kultur
  • vor der Lesekultur
  • vor der Aufklärung

Dafür muß man die Gegenwart verlassen und sich den Texten und Bildern der Vergangenheit zuwenden, soweit es welche gibt und diese einsehbar sind.

Und auch die Sinnfrage vom Anfang kann man nun besser beantworten.

Denn anders sehen und anders denken kann man nur, wenn man die permanente Gegenwart verläßt und den Spiegel der Vergangenheit nutzt, um die Gegenwart zu reflektieren.

Genau dies ist wunderbar mit der Fotografie möglich, wenn sie als Momentfotografie eingesetzt wird.

Du fotografierst den Moment, der danach schon Geschichte ist.

Wer ein visuelles Tagebuch führt, der entdeckt dabei, wie schon weniger Jahre später die aufgenommenen Situationen, Menschen, Strassen und Themen sich geändert haben.

Ich empfinde die Fotografie als Möglichkeit der Selbstreflexion individuell und sozial als Geschenk unserer Zeit.

Und deshalb muß man auch hinterfragen, wieso heute immer mehr Verbote unter dem Deckmantel des Persönlichkeitsschutzes ausgesprochen werden.Sie predigen öffentlich Wasser und saufen heimlich Wein, würde Heine sagen.

Google wird bis heute nicht reguliert und Facebook als Datenkrake ebenfalls nicht.

Aber beim Fotografieren im öffentlichen Raum werden den Fotografiebegeisterten Einschränkungen auferlegt, die in keinem Verhältnis zu dem Erlaubten der Techkonzerne stehen – von den diktatorischen Kontrollen in China und anderswo ganz zu schweigen.

Das rechtfertigt natürlich umgekehrt keine Spannerfotos und öffentliche Zurschaustellung.

Aber man muß darüber mit diesem Problembewußtsein diskutieren.

Und dabei helfen Bücher wie das von Herrn van Rootselaar ungemein.

Ich finde, Sie sollten es lesen.

 

 

2 thoughts on “Leben in schwierigen Zeiten

  1. Vielen Dank für diese Leseempfehlung.
    …“Denn anders sehen und anders denken kann man nur, wenn man die permanente Gegenwart verläßt und den Spiegel der Vergangenheit nutzt, um die Gegenwart zu reflektieren.“…
    Dieser Satz stößt auf Resonanz… bei mir.
    Liebe Grüße,
    Werner

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert