Im Zombiezustand am 1. Advent

mima

Heute schenke ich Ihnen ein paar gute Gedanken für uns heute:

„Eine der großen Illusionen der Sechzigerjahre–zwischen der angloamerikanischen sexuellen Revolution und dem französischen Mai 68–bestand darin zu glauben, dass der Mensch, ist er erst vom Kollektiv befreit, wachsen würde (mea culpa, mea maxima culpa!). Es verhält sich genau umgekehrt. Der Einzelne kann nur innerhalb und durch eine Gemeinschaft wachsen. Allein ist er von Natur aus dazu verdammt, kleiner zu werden. Jetzt, da wir als Menge von metaphysisch-schöpferischen und abgeleiteten, von kommunistischen, sozialistischen oder nationalen Glaubensmustern befreit sind, erfahren wir eine Leere und schrumpfen. Wir werden zu einer großen Menge mimetischer Zwerge, die nicht mehr wagen, selbst zu denken–sich allerdings als ganz genauso intolerant erweisen wie die Gläubigen von früher. Eigentlich sind kollektive Glaubensmuster nicht nur von Individuen geteilte Ideen, die es ihnen erlauben, gemeinsam zu handeln. Sie strukturieren sie. Indem der Glaube ihnen moralische Regeln einprägt, die von anderen gutgeheißen werden, verändert er sie. Diese Gesellschaft, die im Inneren des Individuums wirkt, ist das, was die Psychoanalyse das Über-Ich nennt. Heutzutage hat dieses Konzept einen schlechten Ruf: Es erinnert an eine unsympathische Kontrollinstanz, welche die »persönliche Entwicklung« zurückhält und verhindert. Doch im Geiste Freuds und einiger anderer ist das Über-Ich auch ein Ichideal, das es dem Individuum ermöglicht, sich über seine unmittelbaren Wünsche zu erheben, um besser zu sein und mehr als man selbst. Vor dem freudianischen Ichideal gab es noch das »Gewissen«, und dieses implizierte die Existenz von anderen. Auf sein Gewissen zu hören, Gewissensforschung zu betreiben, waren Imperative christlichen Ursprungs. Im Zombiezustand der Religion blieb die Gesellschaft in der Lage, dem Individuum ein Ichideal zu injizieren, und das Konzept des Gewissens blieb voll und ganz aktiv. Natürlich schematisiere ich, ich übertreibe, indem ich starke Tendenzen als vollständig realisiert darstelle. Der religiöse Nullzustand bringt einen luftleeren Raum zum Ausdruck und ein tendenziell schwächelndes Über-Ich. Er definiert nichts, definiert das Nichts, jedoch für ein menschliches Wesen, das trotz allem nicht aufhört zu existieren und weiterhin Angst vor der menschlichen Endlichkeit verspürt. Diese Negation, dieses Nichts bringt also doch etwas hervor, Reaktionen aller Arten: einige bewundernswert, andere dumm, wieder andere abscheulich. Der Nihilismus, der das Nichts vergöttert, scheint mir darunter noch die banalste zu sein. Er ist im Westen allgegenwärtig, in Europa wie auch in Übersee. Er verbreitet sich in den anthropologischen individualistisch-nuklearen Systemen in Frankreich und vor allem im angloamerikanischen Raum–wo keine familiären Rahmenbedingungen übrigbleiben–in seiner vollendeten Form. Die Spuren von Zombie-Stammfamilien (in Deutschland und Japan) oder von Zombie-kommunitären Familien (in Russland) sind dennoch irgendwie »mehr« als die individualistische Kernleere. Daher erstaunt es kaum, wenn die angloamerikanische Welt, charakterisiert durch einen Nullprotestantismus innerhalb eines absoluten Kernfamilienmilieus, aktuell Schauplatz der offenkundigsten Manifestationen des Nihilismus ist, wie wir bald sehen werden. Doch beginnen wir damit zu untersuchen, wie Kontinentaleuropa, wo nach wie vor komplexere familiäre Formen bestehen, angesichts des Krieges jede Willenskraft verlieren konnte.“

Der Westen im Niedergang: Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall von Emmanuel Todd

Das ist übrigens auch der Grund, warum das ganze Wissen wenig wirkt: „Eine der großen Illusionen der Sechzigerjahre–zwischen der angloamerikanischen sexuellen Revolution und dem französischen Mai 68–bestand darin zu glauben, dass der Mensch, ist er erst vom Kollektiv befreit, wachsen würde (mea culpa, mea maxima culpa!).“

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